Die Schönheit in der Andersartigkeit
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG
Berlin schöpft Hoffnung: Die AfD versinkt nach Petrys Rückzug in inneren Widersprüchen und Tweed-Sakko-Melancholie, um dann rechtzeitig zur Bundestagswahl im nicht mehr ernstzunehmenden einstelligen Prozentbereich zu verschwinden. In Frankreich rettet Macron derweil die Frustwähler vor den Verführungen der rechtspopulistischen Sirene. Und Prinz Kushner – nun vereint mit seiner schönen Ivanka im Rapunzelturm des demokratischen West Wing – vertreibt erst den breitbärtigen Rasputin aus dem Weißen Haus und anschließend dessen Fluch aus der verbittert twitternden Hand des Präsidenten.
Wäre es jetzt nicht an der Zeit, die Konflikte und Sorgen der vergangenen zwei Jahre hinter sich zu lassen, den Blick nach vorne zu richten und sich wieder auf die schönen Dinge des Lebens zu konzentrieren? Im Gegenteil: Das wäre nicht nur schade, sondern fahrlässig. Nicht nur wegen der vielen Menschen in Deutschland, in Europa und der Welt, deren Probleme noch immer nicht gelöst sind. Sondern auch wegen derjenigen, denen es eher gut geht und die den öffentlichen Diskurs seit langem maßgeblich mitbestimmen. Sie sollten genau jetzt die Gelegenheit nutzen, um ihre Sicht auf die Gesellschaft nachhaltig zu prüfen.
So unangenehm das war und ist mit den Populisten und den grölenden Demonstranten, genau wie der Körper regelmäßige Herausforderungen für seine Gesundheit braucht, braucht die Psyche die diskursive Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, um sich weiterzuentwickeln. Nicht nur der Einzelne, auch die Gesellschaft profitiert von der Vielfalt. Sie macht kreativ und steigert die Produktivität. Und sie impft gegen reale Bedrohungen durch Feinde der offenen Gesellschaft und stärkt so das demokratische Immunsystem.
Mit etwa vier Jahren setzt bei den meisten Menschen ein Prozess ein, den die Psychologen als den Beginn zur Fähigkeit des Mentalisierens beschreiben. Wir lernen, das Verhalten der anderen Person einem mentalen Zustand zuzuordnen und aufgrund ihres Verhaltens auf ihren inneren Zustand zu schließen. Zum Beispiel: „Papa schimpft, weil er ärgerlich ist.“ Und nach der nicht unumstrittenen entwicklungspsychologischen Stadieneinteilung des Biologen Jean Piaget lernen wir ein paar Jahre später, uns vorzustellen, wie die Dinge in unserer Umwelt (und später auch wie wir selbst) aus der Perspektive einer anderen Person wahrgenommen werden. Diese Fähigkeit verschafft uns einen selektiven Vorteil. Nicht nur können wir besser auf unsere Umwelt reagieren, wenn wir verstehen und vorhersehen lernen, wie andere Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten. Wir profitieren auch davon, die Perspektiven anderer zu internalisieren, weil wir dadurch unser eigenes Interpretations- und Verhaltensspektrum erweitern.
Wer die Chancen der Mobilität in einer sozial, kulturell und klimatisch vielfältigen globalisierten Welt für sich nutzen will, profitiert davon, auch in seiner näheren Umgebung einen Lebensraum zu haben, der mit sehr unterschiedlichen Verhaltensmustern und Überlebensstrategien vertraut macht. Und das gilt nicht nur für den Trip nach Manhattan, Island oder Kenia. Sondern, aufgrund rasant steigender Immobilienpreise in den Großstädten, bei der bürgerlichen Mittelschicht zunehmend auch für das Verständnis der oft als rückständig betrachteten deutschen Landbevölkerung.Seite 2 von 3
Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas hat aber noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt hingewiesen, der gerade in der Therapie von Paaren und Familien eine große Wirksamkeit entfalten kann: die Wirkung der Einsicht, dass eine andere Person eine Sicht auf die Welt hat, die sich grundlegend von meiner eigenen unterscheidet und die ich nie ganz verstehen kann. Diese zunächst oft unangenehme Einsicht lehrt uns Bescheidenheit. Sie zeigt, dass die eigene Perspektive eine subjektive ist, dass man mit seinen Wahrnehmungen und Überzeugungen nicht im Zentrum der Welt steht, sondern mit anderen Menschen darüber verhandeln muss, wie die Welt zu verstehen ist, wenn man nicht in völlig einsamer Abgeschiedenheit vom Rest der Menschheit leben will.
Wer diese Einsicht auszuhalten lernt, geht souveräner durch das Leben, weil er sich nicht immer verteidigen muss, sondern andere Ansichten neben der eigenen akzeptieren kann. Und wer sich nicht so schnell in Frage gestellt fühlt, kann besser von dem Wissen anderer profitieren und sein Gegenüber wertschätzen, ohne Angst um den eigenen Selbstwert haben zu müssen. Und zuletzt können wir das Leben mehr lieben, wenn wir die Schönheit in der Andersartigkeit unserer Mitmenschen sehen – statt sie als Bedrohung zu erleben. Wir können die Schönheit dessen verstehen, dass sie uns durch ihre Anwesenheit zu der Einsicht verhelfen, dass wir nicht der Nabel der Welt sind.
Menschen, die so etwas können, sind für sich genommen schon eine Bereicherung für die Gesellschaft. Aber auch die Gemeinschaft als Ganzes profitiert von der Vielfältigkeit. Eine Gesellschaft, in der ein breites Spektrum an Ideologien und Lebensmodellen Platz findet, ist kreativer und fortschrittlicher – die Vereinigten Staaten von Amerika sind dafür das beste Beispiel. Und sie sind auch genau dafür ein Beispiel, wie sich eine ursprünglich vielfältige Gesellschaft zunehmend in zwei sich radikalisierende Lager aufspalten kann, die keine Schnittmenge mehr finden, was letztendlich zu einer Zerstörung der Gemeinschaft führen kann. Und deshalb sollten wir die Gelegenheit nutzen, die wichtigsten Lehren aus den vergangenen Jahren zu ziehen.
Um als Einheit aus vielen verschiedenen fortbestehen zu können, brauchen wir ein Mindestmaß an verbindender Identität. Eine Reihe von Wissenschaftlern, wie der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt, haben eindrucksvoll beschrieben, wie gerade die fortschreitende Entfernung einer progressiven Elite von dem Verständnis einer nationalen Identität einen anderen, weniger progressiven Teil in dem Gefühl zurückgelassen hat, dass die bislang bestehende Solidarität aufgegeben wurde. Eine Solidarität mit den Menschen, mit denen man im gleichen Land lebt, die den gleichen Pass haben und mit denen man gemeinsam eine Regierung wählt.Seite 3 von 3
Dieser Vertrauensverlust ist fatal für eine Gemeinschaft, weil es denjenigen, die sich zurückgelassen fühlen, kaum vorzuwerfen ist, dass sie kein Verständnis mehr haben für die Forderung der Progressiveren nach Vielfalt. Denn diese Forderung erscheint unglaubwürdig für jemanden, der selbst gerade das Gefühl hat, aufgrund seiner Andersartigkeit keinen Platz mehr in der Gemeinschaft zu finden. Und so bizarr die Behauptung auch ist, regierende Politiker und öffentlich-rechtliche Medien würden widersprechende politische Meinungen in diktatorischer Manier unterdrücken – der Vorwurf, dass derjenige, der Toleranz für die Bräuche anderer Kulturen predigt, das Bedürfnis nach Nationalität und Traditionen der eigenen Mitbürger nicht verspotten darf, sollte nicht einfach abgetan werden.
Wenn jemand aus Kreuzberg oder Neukölln gegen Nationalisten aus Dresden demonstriert, aber mit dem Argument der vermeintlich kulturellen Vielfalt blind ist für die Nationalisten im Nachbarhaus, dann höhlt das die eigenen Ideale nicht nur aus, sondern führt sie ad absurdum. Und genauso muss, wer Gesetze gegen den Hass im Internet durchsetzen will, selbst auch nach geltendem Recht handeln und Vorbild sein für das, was er einfordert. Aber vielleicht sollten wir uns dazu zunächst einmal noch klarer auf gemeinsame Maßstäbe einigen, die wir bereit sind allgemeingültig einzusetzen und nicht nur dort, wo sie den eigenen Idealen entgegenkommen.
Das ist das Problem mit Rosa Luxemburgs Forderung, die Freiheit müsse immer die Freiheit der Andersdenkenden sein. Wir müssen uns als vielfältige Gemeinschaft auch klar darüber werden, wo die Grenzen der Handlungsfreiheit Andersdenkender sind. Und zwar unabhängig davon, ob ihre Überzeugungen mit unseren eigenen übereinstimmen. Das muss die Lehre der nun hoffentlich hinter uns liegenden Krise sein. Wir müssen die Grenzen der Freiheit so festlegen, dass wir sie anwenden können, ohne mit zweierlei Maß zu messen. Und nur wenn wir uns im Rückblick auf die schwere gesellschaftliche Krise der vergangenen Jahre die Frage nach diesen Grenzen offen stellen, können wir sicher sein, dass wir auch in Zukunft eine Gesellschaft sein werden, die im Rahmen ihrer rechtlichen und moralischen Grenzen Platz für Vielfalt hat.
Nur dadurch werden wir eine Gemeinschaft, die sich zu helfen weiß, in Anbetracht der Bedrohung durch diejenigen, die aufgrund ihrer verbitterten Blindheit für das Schöne im Anderen die Fähigkeit verloren haben, die Vielfalt der Gemeinschaft auszuhalten. Und die damit die grundlegende Einheit bedrohen, die wir brauchen für ein gemeinsames Überleben in einer immer komplexeren und zunehmend bedrohten Welt. Denn keine rechte oder linke Ideologie ist die größte Gefahr für die Einheit unserer Gesellschaft und auch keine Religion. Sondern die zynische Verbitterung, der die Welt nur noch erträglich scheint in der strengen Unterteilung in Gut und Böse, in Freund und Feind. Und die den Blick verstellt für die Schönheit in der Andersartigkeit der Anderen.
Jan Kalbitzer