„Eine sehr bedenkliche Entwicklung“
FAZ: Herr Kalbitzer, im Dezember 2016 haben Sie Ihre Psychiater-Kollegen öffentlich aufgefordert, keine Ferndiagnosen über Donald Trump zu erstellen. Haben Sie das seitdem immer durchgehalten?
KALBITZER:(lacht) Öffentlich sollte man keine Ferndiagnosen erstellen, damit habe ich nicht gebrochen. Was ich privat mache, ist etwas anderes. Eine Diagnose ist aber auch völlig überflüssig. Es ist sinnlos, dafür seine ethischen Grundsätze aufzugeben. Was man bei Trump wissen will, ist doch: Ist er für das Amt geeignet? Menschen, die in stressigen Berufen arbeiten, werden manchmal vorher getestet, ob sie ihre Impulse unter Kontrolle haben und unter Druck noch rational handeln. Der Test hat bei Donald Trump in aller Öffentlichkeit stattgefunden. Er ist ein Mensch, der unter Stress impulshaft reagiert, der aggressiv wird und der seine politischen Entscheidungen nicht immer rational trifft. Das war schon vor der Wahl klar sichtbar. Da braucht kein Psychiater kommen und sagen: Der ist Narzisst. Diese psychische Störung ist eigentlich ein Konstrukt, um Menschen mit Problemen helfen zu können. Jetzt wird die Diagnose nicht mehr genutzt, um zu helfen, sondern als soziales Sanktionsmittel. Das halte ich für eine sehr bedenkliche Entwicklung. Da sollte man sich als Psychiater tunlichst raushalten.
Spätestens seit dem Buch „Fire and Fury“ wurde bei Trump nicht nur über Narzissmus, sondern auch über eine beginnende Demenz spekuliert. Die will sein Arzt kürzlich mit dem sogenannten MoCa-Test ausgeschlossen haben, bei dem Trump 30 von 30 möglichen Punkten erreichte.
Viel wichtiger als diesen Test finde ich die Aussage von Ronny Jackson, dem offiziellen Arzt des Weißen Hauses, dass er sich regelmäßig im Alltag ein Bild von dem Präsidenten verschafft. Das scheint ein exzellenter Mediziner zu sein, dem auch Demokraten ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt haben. Und wenn der sich hinstellt und sagt, er beobachtet Trump regelmäßig und hat nicht den Eindruck, dass ein kognitiver Test überhaupt nötig ist, dann ist eine kognitive Störung ausgeschlossen – sofern man dem Arzt vertraut.
Und ist der MoCa-Test ernst zu nehmen? Es gab ja spöttische Titelzeilen wie: „Trump kann Löwe und Nashorn benennen“
Doch, das ist ein ernst zu nehmender Screening-Test. Damit kann man auch schon beginnende kognitive Einschränkungen erkennen. Hätte Trump wirklich die schweren kognitiven Störungen, wie ihm das einige Kritiker vorwerfen, wäre das bei diesem Test zweifelsohne sichtbar geworden.
Hat sich Ihre Branche mit den vielen Trump-Ferndiagnosen geschadet?
Ich sehe zwei Bereiche, in denen Schaden angerichtet wird. Einmal geht es um die Leute, die von Psychiatern eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert bekommen und behandelt werden sollen. Für die ist das viel stigmatisierender, wenn die Diagnose auch verwendet wird, um Politiker zu kritisieren. Damit erschwert man Menschen den Zugang zum psychiatrischen System. Der andere Schaden ist: Ich glaube, dass kein Trump-Wähler wegen dieser Ferndiagnosen Trump nicht mehr wählen wird. Im Gegenteil, sie werden sagen: Jetzt wähle ich Trump erst recht. Weil es für sie ein Beweis ist, dass seinen Gegnern alle Mittel recht sind, um ihn politisch anzugreifen. Damit verstärken wir als Psychiater die gesellschaftlichen Gräben, die sowieso schon tief genug sind. Wir sollten uns eher anschauen, warum diese Gräben entstehen – und dagegen etwas tun.
Warum entstehen die Gräben?
Menschen fangen an, zu polarisieren, wenn sie ihr Umfeld als instabil empfinden und sich bedroht fühlen. Umso aufgeheizter die Debatten geführt werden, umso mehr Angst geschürt wird, umso aggressiver werden die Diskussionen. Wer Angst hat, schlägt sich auf eine Seite, um sich sicherer zu fühlen. Das Wichtigste wäre, die Hitze aus der Debatte rauszunehmen. Es ist sehr wohlfeil, sich über Trump aufzuregen oder in Deutschland über Herrn Gauland. Aber das hilft überhaupt nichts.
Was wäre besser?
Man muss sich auch mit der Mitte der Gesellschaft beschäftigen. In der SPD haben wir zum ersten Mal seit langem einen männlichen Politiker, der die Partei nicht impulshaft und aggressiv führt, sondern Kritik annimmt und über eigene Fehler spricht – und der wird dafür niedergemacht. Auf der anderen Seite entwickeln sich dann wieder Männerseilschaften, in denen sich karriereorientierte männliche Politiker aus CDU, FDP und CSU mit Hang zu Selbstdarstellung und Kommentaren, die Ressentiments schüren, vernetzen. Denen schauen wir nicht richtig auf die Finger. Stattdessen geht es die ganze Zeit um die Provokationen der AfD. Und um Donald Trump, der weit weg ist. Die vielen kleineren Prozesse entgehen uns, dabei könnten wir genau dort konkreter Einfluss nehmen.
Das klingt ein bisschen danach, als würden auch Ihre politischen Vorlieben in Ihre Analysen einfließen.
Wirklich? Wo ordnen Sie mich denn politisch ein? Ich bin ja nicht mal ein öffentlich erklärter Trump-Gegner. Trump und die gesellschaftlichen Entwicklungen, für die er steht und die er fördert, sind teilweise sehr erschreckend. Aber er ist auch ein politischer Weckruf gewesen, der viele positive Entwicklungen in der politischen Mitte und auch bei den Medien bewirkt hat.
Aber die SPD ist Ihre Partei?
Nein, als Privatperson finde ich die SPD sehr enttäuschend. Ich kenne viele Menschen, die aus einfachen Verhältnissen kommen – sowohl in meinem Freundeskreis als auch unter meinen Patienten. Von denen fühlt sich niemand von den pöbelnden Männern vertreten, die in der SPD – bis Schulz kam – lange in der ersten Reihe standen. Männer, die ernsthaft geglaubt haben, dass Menschen mit geringerem Einkommen sie wählen, wenn sie abfällig über Frauen reden, oder über ihre Vorliebe für eine Bratwurst. Und die auch erstaunlich oft das erfüllt haben, was von Trumps Gegnern an ihm kritisiert wird: Kränkbarkeit, Impulsivität, Chauvinismus – und die Nähe zu Russland.
Und was gefällt Ihnen an Schulz?
Dazu antworte ich Ihnen gerne wieder als Psychiater: Ich finde es positiv, wie er in dieser Spiegel-Titelgeschichte als männlicher Spitzenpolitiker Einblicke in seine Schwächen gegeben hat. Er ist kritikfähig und entscheidet nicht alles impulshaft ganz alleine – das ist das Gegenteil von dem, was viele in Deutschland an Trump kritisieren. Solche Männer wünschen wir uns auch im Hinblick auf die MeToo-Debatte. Er hat sicher Schwächen, aber er verkörpert einige Eigenschaften sehr positiv, die wir in der Politik häufiger brauchen und die auch oft gefordert werden. Aber stattdessen hacken jetzt alle auf ihm herum. Wenn man eine offenere Gesellschaft will, in der Prozesse gemeinschaftlich und transparent stattfinden, dann sollte man Menschen stärken, die so stark sind, dass sie offen über Schwächen sprechen können. Und nicht denen so eine große Bühne bieten, die einen Marketing-Wahlkampf machen, statt politische Verantwortung zu übernehmen.
Auf Lindners Schönheits-Wahlkampf hacken doch auch alle herum. Nutzen Sie Ihre Rolle als Psychiater nicht doch, um ihre politische Meinung kundzutun?
Sie wären wirklich überrascht, wenn Sie meinen Wahlzettel sehen würden. Nein, mir ist als Psychiater wichtig zu sagen, dass die Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht und dass Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens einen wichtigen Einfluss haben, den sie nutzen sollten, um Politiker zu fördern, die über die richtigen Eigenschaften verfügen, um in diesen Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen die Gesellschaft langfristig zu stabilisieren – egal in welcher Partei. Und die nicht durch Inszenierungen weiter die Glaubwürdigkeit des politischen Prozesses gefährden. Schulz ist dafür nur aktuell ein bemerkenswertes Beispiel.
Befürchten Sie, dass nach Merkel in Deutschland wieder ein Impuls-Politiker an die Macht kommt?
Persönlich finde ich, dass Merkel sich leider nicht immer gut erklärt hat. Aber sie hat trotzdem viele positive Charaktereigenschaften in die Politik gebracht, um die wir in vielen anderen Ländern beneidet werden. Wer pragmatisch, ruhig und souverän regiert, schafft viel Stabilität. Stärke besteht nicht immer darin, laut zu sein.
Hoffen Sie, dass mit dem jüngsten Gesundheitstest die Debatte über Trumps geistige Gesundheit ein Ende hat?
Ich hoffe, dass wir uns im zweiten Jahr seiner Amtszeit mit wichtigeren Sachen beschäftigen. Zum Beispiel damit, wie wir in Deutschland diejenigen in die Gesellschaft zurück holen können, die sich durch Tabubrüche aus ihrer Mitte katapultiert haben. Aktuell reagieren wir auf diese Angriffe vor allem mit gesellschaftlicher Ausgrenzung. Aber wir müssen darüber hinaus etwas gegen diesen bitteren Hass und Zynismus tun. Denn die Gruppe der Ausgegrenzten wird immer größer. Und als gespaltene Gesellschaft werden wir nicht überleben.
Interview: Sebastian Eder