Sie wissen selbst, was Ihnen guttut!

WELT AM SONNTAG

Ständig erreichbar sein, Tag und Nacht bedrohliche Schlagzeilen aus der ganzen Welt auf dem Display und dann diese erschöpfte Lähmung, die angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten schon beim Aussuchen eines neuen Wasserkochers eintritt – da kann man schon mal an den Rand der Verzweiflung geraten.

Aber es gibt ja die ständig wachsende Zahl an Coaches und Experten, die gute Ratschläge geben, wie der Reizüberflutung am besten beizukommen sei: mit Anleitungen zur „Entschleunigung“ und „Digital Detox“-Seminaren für gestresste Seelen.

Und nun wärmt auch noch der Historiker Yuval Noah Harari den Hippietraum der Achtundsechziger auf und empfiehlt, gegen die in seinen Bestsellern ausführlich beschriebenen Weltuntergangsszenarien täglich stundenlang zu meditieren.

Seltsam nur, dass der Stress in den letzten Jahren trotz dieser vielen guten Ratschläge eher zu- als abgenommen hat. Was den Verdacht nahelegt, dass all die guten Empfehlungen vielleicht nicht die Lösung, sondern Teil des Problems sind.

Man muss ja nicht gleich von einer Beratungsindustrie sprechen, die die Erschöpften und Verzweifelten als Kunden braucht und die Gefahren in teuren Workshops erst auf das Whiteboard malt, um dann Lösungen für die vermeintlichen Probleme anzubieten. Aber zweifelsohne gibt es einige erfolgreiche Keynote-Speaker und Beratungsagenturen, die sehr gut von diesem Geschäftsmodell leben.

Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil Sie, verehrter Leser, im Grunde selbst sehr genau wissen, was das Problem ist. Und Sie wissen auch, was Sie tun müssten, um es zu beheben. Zum einen natürlich, was Sie selbst und Ihr Leben betrifft.

Sie wissen, dass Sie sich wahrscheinlich gesünder ernähren sollten. Abwechslungsreicher, weniger Zucker und Salz und vielleicht auch weniger Alkohol. Dafür mehr frisches Obst und Gemüse. Sie wissen auch, dass Sie sich vermutlich öfter bei Tageslicht an der frischen Luft bewegen sollten.

Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, statt Teil der stinkenden Blechlawine zu werden. Oder zumindest einen Teil des Wegs zu Fuß gehen. Und Sie wissen, dass Sie nicht nur um Ihrer selbst willen, sondern auch aufgrund Ihrer Verantwortung für die nachfolgenden Generationen, schonender mit Ressourcen umgehen müssen.

Geräte, die noch funktionieren, nicht ständig durch neuere ersetzen. Ungenutzte Geräte ganz ausschalten. Weniger Einwegprodukte verwenden Auch wenn Sie sich manchmal sehr über andere ärgern, wissen Sie, dass die Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn die Menschen sich wieder respektvoller begegnen.

Dass es Sinn macht, auf die Meinung anderer, wenn sie der eigenen nicht entspricht, nicht mit Besserwisserei und Zurechtweisungen zu reagieren, sondern mit dem aufrichtigen Versuch, den Blick des anderen auf die Welt besser zu verstehen. Gerade wenn er zunächst einmal unverständlich erscheint.

Frère Roger, der mittlerweile verstorbene Gründer des französischen Klosters Taizé, hat das einmal schön auf den Punkt gebracht: Mit jedem Tag wachse für ihn die Herausforderung, sich nicht auf seine riesige Erfahrung im Umgang mit den Tausenden Menschen, die Jahr für Jahr zu seinem Kloster im Burgund pilgern, zu verlassen, sondern jeder Person wieder völlig offen und unvoreingenommen zu begegnen.

Weil für ihn darin auch die wahre Achtung vor Gott besteht. Aber man muss nicht an Gott glauben, um zu verstehen, warum diese Form der Demut im alltäglichen Miteinander nur guttun kann.

Vielleicht gehören Sie ja zu den Menschen, die sich in den letzten Jahren eine extreme Meinung zugelegt haben. Zum Beispiel, dass die Bundeskanzlerin eine „Volksverräterin“ sei. Dann wissen Sie aber wahrscheinlich trotzdem, dass Ihr Ärger über Politik und auch über Ungerechtigkeiten im Politikbetrieb es weder rechtfertigt, andere zu beleidigen noch sich in die Schmollecke zurückzuziehen und im Schutz des Internets oder aus der Masse einer Demonstration heraus zu hetzen, statt sich differenzierten Diskussionen auszusetzen.

Vielleicht sind Sie aber auch auf der vermeintlich gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums zu dem Schluss gekommen, dass man mit „den Nazis“ ohnehin nicht reden könne. Und Sie begegnen den so kategorisierten Menschen deshalb mit einer ähnlichen Verachtung für die Menschenwürde, die Sie ihnen doch gerade vorwerfen.

Dann wissen Sie ziemlich wahrscheinlich auch, dass Sie damit eigentlich nicht im Recht sind. Sondern sich eine Selbstgerechtigkeit leisten, die mit den Werten, die Sie zu vertreten glauben, nicht vereinbar ist. Interessanterweise hilft es Ihnen weder auf der einen noch auf der anderen Seite, sich mit vielen Menschen zu umgeben, die sich in die gleichen Überzeugungen verrannt haben. Wenn Sie sich selbst etwas vormachen, dann bricht der Zweifel irgendwann auf – oder Sie zahlen für die Verdrängung ihrer inneren Wahrheit eines Tages den Preis der Verbitterung.

Dennoch wäre es ein Fehler, Gefühle wie Wut oder Angst deshalb generell zu verurteilen und zu verdrängen. Das Problem ist ja, dass Sie zwar wissen, was zu tun ist – es aber dennoch nicht so häufig tun, wie Sie es eigentlich vorhaben.

Genau deshalb sind Gefühle notwendig: um sich in Bewegung zu setzen. Es geht nur darum, sich nicht unkontrolliert von ihnen überwältigen zu lassen. Sondern sie erst zuzulassen und dann aber aufgrund von Wertvorstellungen bewusst zu entscheiden, in welche Richtung die Energie der Gefühle gehen soll. Welche Grenzen des eigenen Handelns man dabei anerkennen muss. Und wo man in der Verantwortung steht, etwas zu tun, weil man es kann.

Denn psychologische Studien weisen darauf hin (und das wussten Sie wahrscheinlich auch schon, weil psychologische Studien vor allem dann Erfolg haben, wenn sie mit wissenschaftlichen Methoden lange bekannte Binsenweisheiten belegen), dass langfristig am zufriedensten lebt, wer die Grenzen seiner Möglichkeiten anerkennt, innerhalb dieser Grenzen aber bewusst aus sich selbst heraus handelt.

Und anerkennt, dass auch das eigene Leben begrenzt ist und deshalb im Hier und Jetzt gelebt werden muss und nicht im Grübeln über die Vergangenheit oder dem Planen der Zukunft.

Es braucht dazu keine neue Kultur der Innerlichkeit, keine Selbstfindungsseminare und auch keine stundenlangen Meditationssitzungen. Es reicht vielmehr, im Alltag gelegentlich innezuhalten, tief durchzuatmen und – statt sich mit einer Zeitung, dem Smartphone oder Arbeit abzulenken – die Augen zu öffnen für die Situation, in der Sie sich befinden, und die möglichen Motive der anderen, die gerade anderer Meinung sind.

Und dann in sich hineinzufühlen, was das Ganze mit Ihnen macht. Um sich schließlich zu fragen, wie Sie aufgrund Ihrer Wertvorstellung genau jetzt reagieren wollen. Dann löst sich mit großer Sicherheit auch das Problem der vermeintlichen Beschleunigung.

Denn es bringt ja überhaupt nichts, der Vielzahl an Informationen, Angeboten und Herausforderungen damit zu begegnen, dass man langsamer wird und weniger tut. Man muss sich entscheiden, was man überhaupt beeinflussen kann und welche der beeinflussbaren Faktoren von wirklicher Bedeutung für das eigene Leben sind. Und dabei akzeptieren, dass man nicht immer alle Möglichkeiten ausschöpfen und allen gerecht werden kann. Ohne die Menschen und Dinge zu vernachlässigen, die für das eigene Leben am wichtigsten sind.

Einzig Hass kann als Gefühl leider nur selten als produktive Energie genutzt werden. Weil ihm meist so große Verletzungen, Minderwertigkeitskomplexe oder Scham zugrunde liegen, dass die Betroffenen meinen, nur in der intellektuellen oder physischen Auslöschung des Hassobjekts Erlösung finden zu können.

Deswegen ist die schwierigste Übung im Umgang mit Hass, einerseits der Zerstörungswut sehr klare und unmissverständliche Grenzen zu setzen. Dabei andererseits aber auch selbst den Hasserfüllten gegenüber die grundsätzliche Achtung vor der Würde jedes Menschen nicht aufzugeben, weil man den Hass damit nur noch steigert.

Wenn Sie diesen Artikel nun in der Überzeugung zur Seite legen, dass Sie sich die meisten der neuen, heißen Tipps zu Ernährung und Lifestyle ab jetzt sparen werden, weil Ihnen gerade klar wird, was für Sie persönlich jetzt ansteht, dann hat er genau das getan, was jeder wirklich gute Expertenrat bewirken sollte: nicht den Bedarf nach mehr Beratung erzeugen, sondern sie überflüssig machen.

Jan Kalbitzer