„Sie macht es einfacher, Schwäche zu zeigen“

Die Bundeskanzlerin hat beim Empfang des finnischen Ministerpräsidenten Antti Rinne ein drittes Mal öffentlich sichtbar einen kurzen Zitteranfall gehabt. Danach sagte sie erneut, dass es ihr gut gehe, sie noch in der Verarbeitungsphase sei. Das erste Mal hatten offenbar das heiße Wetter und zu wenig Wasser dazu geführt, dass sie zu zittern begann, während des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Ursachen für die zwei folgenden schwächeren Anfälle seien psychische. Was macht es mit einer Person in einem so hohen Amt, wenn sie sich erklären muss? ZEIT ONLINE hat darüber mit dem Psychiater und Psychotherapeuten Jan Kalbitzer gesprochen.


ZEIT ONLINE
: Herr Kalbitzer, Angela Merkel sagte, dass ihr erneutes Zittern wohl psychologische Ursachen habe. Was sagen Sie dazu, wie die Bundeskanzlerin mit der Situation umgeht?  

Jan Kalbitzer: In der Öffentlichkeit über die eigene Psyche zu sprechen, ist per se mutig. Früher war das stark stigmatisiert, inzwischen wird es – gerade auch in Deutschland – häufiger gemacht. Trotzdem ist es für Menschen in einer Position wie der von Angela Merkel besonders schwierig, über ihre Psyche und die eigene Belastung zu sprechen, weil sie unter extrem hohem Druck stehen. Dass sie das tut, ist ein Zeichen von großer Souveränität.

ZEIT ONLINE: Warum spricht es für Souveränität, dass sie sich so erklärt? 

Kalbitzer: Auf Angela Merkel wird international sehr viel projiziert. Sie steht als einzelner Mensch in vielen Teilen der Welt für die liberale Demokratie. Sie ist für ihre ruhige Art bekannt und ihr ist bislang eher vorgeworfen worden, dass sie zu wenig über Gefühle spricht. Als sie im Sommer 2015 ein weinendes Mädchen aus Palästina in einer Gesprächsrunde tröstete, hat das für negative Reaktionen quer durch die Presse gesorgt. Und Frau Merkel wurde während des Wahlkampfes zum Teil angeschrien, aufs Übelste beschimpft und – auch durch die AfD motiviert – als Volksverräterinbezeichnet. Dass jemand, der in der Öffentlichkeit unter solchem Druck steht, jetzt eine Schwäche einräumt, ist eine unglaubliche Stärke.

ZEIT ONLINE: Zu wenig getrunken, zu heiß. So erklärte Angela Merkel das erste Zittern bei der Pressekonferenz. Nach dem zweiten Mal hieß es, sie habe den ersten Vorfall psychisch noch nicht verarbeitet. Das wiederholte die Kanzlerin gestern nochmals. Kommt es häufiger vor, dass eine Person durch die Erinnerung an einen Vorfall diesen quasi erneut erlebt?

Kalbitzer: Ich lehne es ab, aus der Ferne eine Diagnose zu stellen und über die Gesundheit von Frau Merkel zu spekulieren. Was ich sagen kann: Es gibt beispielsweise die Angst, in der Öffentlichkeit zu erröten. Nun ist es so: Wenn Sie in der Öffentlichkeit stehen und genau dann fürchten, zu erröten, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass genau das passiert. Weil sie durch die Angst aufgeregt sind. Das ist vom Mechanismus ähnlich, auch wenn es eine andere Angst ist.

ZEIT ONLINE: Angela Merkel gibt genau das als Begründung an. Sie sagt, dass die Verarbeitung noch nicht ganz abgeschlossen sei, es aber Fortschritte gebe und sie wohl eine Weile damit leben müsse. Warum sagt sie das?

Kalbitzer: Darüber ließe sich nur spekulieren und das ist für einen Arzt, gerade in der Öffentlichkeit, unzulässig. Unabhängig von meinem Beruf finde ich die Begründung, die Frau Merkel gibt, sehr berührend. Sie sagt, dass sie beim zweiten und dritten Mal aus der Sorge heraus gezittert hat, dass es wieder passieren könnte. Das macht deutlich, unter welch enorm großen Druck zu funktionieren sie steht. Ich finde es bewundernswert, wie sie schon immer damit umgegangen ist und wie sie jetzt mit dieser Schwäche umgeht.

Indem sie sich so in der Öffentlichkeit äußert und einräumt, dass das passiert ist und passieren darf, sorgt sie aber auch dafür, dass der Druck, der jetzt auf ihr lastet, in Zukunft sinkt. Auch das muss man ihr hoch anrechnen. Andere Menschen werden dadurch, dass Merkel so darüber spricht, unter weniger Druck stehen – weil sie es mit ihrer souveränen Art einfacher macht, auch in machtvollen Führungspositionen öffentlich Schwäche zu zeigen.

„Es ist auch wichtig, dass Medien respektvoll berichten“

ZEIT ONLINE: Sind Führungspersonen denn häufiger von so einem Zittern betroffen oder von einer anderen Reaktion, die von der Gesellschaft als Schwäche wahrgenommen wird?

Kalbitzer: Das ist schwer zu sagen, denn man sieht und hört es nicht häufig. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es auch nicht passiert, obwohl es das tut. Der BMW-Chef Harald Krüger ist 2015 auf der Bühne der IAA zusammengebrochen und hat dazu gesagt, dass er sich zu viel zugemutet hatte. Vom früheren US-Präsidenten John F. Kennedy weiß man, dass er unter starken Ängsten und Depressionen litt. Damit war er sicherlich nicht der Einzige, denn Führungspersonen sind besonders großen Belastungen ausgesetzt. Es ist aber selten, dass sie darüber sprechen. Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht hat das im März dieses Jahres beispielsweise getan, indem sie über den Stress gesprochen hat, unter dem sie steht.

ZEIT ONLINE: Macht es einen Unterschied, wenn es um eine Frau geht?

Kalbitzer: Ganz sicher. Die Öffentlichkeit beurteilt Frauen noch stärker über ihr Äußeres und bewertet Schwächen bei ihnen oft noch härter. Es ist fatal, dass es für Frauen noch schwieriger ist, in Ämtern und Führungspositionen selbstverständlich aufzutreten. Sie werden gerade in den sozialen Medien, aber auch von Kollegen für Fehler oft noch härter und gehässiger angegriffen. Angela Merkel geht mit ihrer Rolle als Frau sehr nüchtern um. Ob sie den Druck, unter dem sie als Frau steht, auch so stark wahrnimmt, weiß ich nicht.

ZEIT ONLINE: In den drei Fällen, in denen Angela Merkel zitterte, waren es Empfänge, im Stehen und unter den Blicken aller. Ist es sinnvoll, dass sie stehen bleibt, wenn doch eigentlich klar ist, dass es ein Problem gibt?

Kalbitzer: Ich bin sicher, dass sie und ihr Team in der Lage sind, die für sie beste Strategie zu wählen.

ZEIT ONLINE: Spielt es eine Rolle, wie Medien über solche Vorfälle berichten?

Kalbitzer: Ja, eine große. Über Twitter und andere soziale Medien erfahren Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, heutzutage sowieso schon viel stärker, was Teile der Bevölkerung über sie denken. Die Berichterstattung der Zeitungen und des Fernsehens ist aber trotzdem noch sehr wichtig. Wenn über Politiker besonders reißerisch berichtet wird, dann ist die Angst, Schwächen zu zeigen, noch viel größer. Und natürlich das Schamgefühl, wenn es ungewollt passiert. Es ist grundsätzlich schon wichtig, über dieses Phänomen zu berichten, weil der Gesundheitszustand von Staatsoberhäuptern für die Wähler und auch für die internationale Gemeinschaft wichtig ist. Aber es ist auch wichtig, das respektvoll zu tun. Dass eigens Videos von den Situationen veröffentlicht wurden, in denen sie gezittert hat, finde ich zutiefst unanständig.

Interview: Maria Mast