Etwas Respekt, bitte
SPIEGEL ONLINE
Im Frühjahr kündigte Sahra Wagenknecht an, ihre langjährige Position als Spitzenpolitikerin wegen Erschöpfung aufzugeben. Im Frühsommer erlitt Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrere Zitteranfälle. Und jetzt mussten innerhalb eines einzigen Tages zwei Mitglieder des Bundestags aufgrund von Schwächeanfällen behandelt werden.
Woran liegt diese scheinbare Häufung? Sind die Arbeitsbedingungen durch die vielen ungeahndeten Beleidigungen und Bedrohungen in den sozialen Medien brutaler geworden? Liegt es am Siegeszug von Parteien, die von den Rändern aus eine giftige Rhetorik der Feindschaft pflegen? Oder sehen wir aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Smartphone-Kameras einfach mehr?
Große psychische Widerstandskraft
Ohne Frage hat die Arbeit in der Politik schon immer eine enorme Konstitution erfordert. Und sicher ist auch, dass diejenigen, die dauerhaft und ohne zu verbittern dabeibleiben, über eine große psychische Widerstandskraft verfügen.
Gerade Menschen wie Wolfgang Schäuble, der nicht nur einen schweren Mordanschlag überlebte, sondern anschließend in den Bundestag zurückkehrte und zusätzlich zu den Belastungen durch das lebensbedrohliche Ereignis und die körperlichen Einschränkungen weiter diese Anstrengung auf sich nahm, verdienen enormen Respekt.
Genauso wie Angela Merkel, die nach den Zitteranfällen auf Fragen nach ihrer Verfassung ganz offen angab, dass sie aufgrund der Angst, wieder in der Öffentlichkeit zu zittern, erneut gezittert habe. Was nichts anderes heißt, als dass sie aufgrund des enormen psychischen Drucks zitterte. Vor dem Hintergrund der heftigen Angriffe gegen ihre Person – gerade aus den Reihen der AfD und ihrer Anhänger – zeugt diese Offenheit von großem Mut.
Die doppelte Wirkung der Digitalisierung
Hier zeigt sich, dass die Digitalisierung beides kann: Sie erzeugt mehr Druck, aber sie ermöglicht auch eine neue Transparenz und Nähe. Und mit ihren offenen Reaktionen übernehmen Angela Merkel und andere damit eine Vorbildfunktion, was den Umgang mit psychischen Belastungen und Stress unter diesen neuen Bedingungen angeht. Eine Vorbildfunktion, die weit in die Gesellschaft hineinreicht; die viele Menschen ermutigen kann, frühzeitig offen über ihren eigenen Stress zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, bevor Folgeerkrankungen wie Erschöpfungsdepressionen, Bluthochdruck oder Stoffwechselstörungen auftreten.
An den Reaktionen auf den offenen und öffentlichen Umgang von Politikerinnen und Politikern mit ihren Belastungen und Schwächen wird jetzt aber auch deutlich, dass Deutschland nicht primär ein Problem mit inhaltlich radikalen politischen Positionen hat, sondern mit Menschen, deren verbitterter Hass und deren Hetze das Miteinander vergiften.
Dennoch sollte die Frage nach den Arbeitsbedingungen im Politikbetrieb nicht bei den Extremen Halt machen. Die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg, die sich jetzt im SPIEGEL-Interview sehr offen zu den Belastungen ihrer Arbeit äußerte, sagte schon kurz nach Antritt ihres Mandats etwas sehr Grundlegendes über ihre neuen Arbeitsbedingungen: Sie stresse an der Arbeit, dass man „vor lauter Terminen kaum noch Zeit hat, mal in Ruhe über etwas nachzudenken“.
Kaum hinterfragte Vorverurteilung
Viele nehmen sich in der Hitze der Debatte in sozialen Medien oft nicht die Zeit, nachzuvollziehen, welcher Druck im Alltag des Politikbetriebs herrscht. Wie unter vielen verschiedenen Positionen der für alle Beteiligten tragbare Konsens gefunden werden muss. Und welche Anstrengung es bedeutet, dabei permanent unter Beobachtung zu stehen und Angst haben zu müssen, dass ein Fehler aufgebauscht wird und durch kaum hinterfragte öffentliche Vorverurteilungen die eigene Existenz bedroht.
Vielleicht sollte sich deshalb manch einer fragen, ob er mit seinen Sprüchen nicht zu den Kumpels in die Kneipe gehen sollte, statt im Netz öffentlich diejenigen anzugreifen und unter Druck zu setzen, die aus Idealismus ein Amt übernehmen und sich der öffentlichen Debatte stellen.
Jan Kalbitzer