„Die Welt ist nicht sicher. Wir müssen lernen, das auszuhalten.“

Das Jahr 2020 hat schlecht angefangen: Im Januar vernichteten apokalyptische Brände in Australien riesige Flächen, der Klimawandel wurde real wie selten zuvor. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht durch Kriege und Konflikte. Im hessischen Hanau tötete Ende Februar ein rassistischer Angreifer zehn Menschen. Aktuell verbreitet sich ein neues Coronavirus weltweit. Viele Menschen sorgen sich, sind verunsichert und würden sich am liebsten zu Hause verkriechen. Der Psychotherapeut Jan Kalbitzer erklärt, warum es nun so wichtig ist, den Kontakt zu anderen zu suchen. 

ZEIT ONLINE: Herr Kalbitzer, haben die Menschen gerade mehr Angst als sonst? 

Jan Kalbitzer: In unserer Praxis und im Privaten beobachte ich das. Es scheint eine Grenze überschritten zu sein, weil einige der globalen Bedrohungen nun unser persönliches Lebensumfeld betreffen. Etwa das neue Coronavirus: Viele Menschen kennen jemanden, der im Italienurlaub war oder auf einer Geschäftsreise in China. Es ist klar, dass sich weitere Menschen infizieren werden. Einige der Menschen, die zu uns in die Ambulanz und Tagesklinik kommen, berichten, dass sie diese Ereignisse nicht mehr von sich fernhalten können. Durch die schiere Menge der Bedrohungen und durch die hohe Frequenz der schlechten Nachrichten können sie nicht mehr abschalten.

ZEIT ONLINE: Ist es sinnvoll, in solchen Situationen möglichst gut informiert sein zu wollen?

Kalbitzer: Ja, natürlich. Wenn aber die virtuelle Realität eine andere ist als das, was die Menschen auf der Straße sehen, wie das im Fall des Coronavirus ist, dann erneuert sich der Reflex der Selbstvergewisserung immer wieder. Einmal darin gefangen, kommt man da allein oft nicht mehr so leicht raus.

ZEIT ONLINE: Die Medienberichterstattung spielt also eine entscheidende Rolle?

Kalbitzer: Ja, Zeitungen, Fernsehen und soziale Medien lenken unseren Blick auf die Welt mittlerweile sehr. Bilder und Sprache sind entscheidend. Sie müssen die reale Welt wiedergeben, tun das aber oft unzureichend. Bilder von asiatisch aussehenden Menschen mit Atemmasken und Schutzanzügen im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Coronavirus in Deutschland etwa senden mehrere falsche Signale: Sie schüren Vorurteile und die Angst vor diesen Menschen. Manche Bilder vermitteln auch, dass man sich mit den Masken gut vor dem Virus schützen könnte, was bei den meisten Modellen nicht stimmt. Und auf den Straßen in Deutschland können wir die Dramatik dieser Bilder auch nicht bestätigen. Indem ein Mensch ständig mit reißerischen Überschriften, steigenden Fallzahlen und irreführenden Bildern überschüttet wird, verlernt er, mit den echten Menschen mitzufühlen, die auf diesen Bildern zu sehen sind – und auch mit denen, die uns umgeben. Genau dieses Mitgefühl braucht es in Zeiten wie diesen aber, damit nicht jeder nur an seine eigene Rettung denkt, sondern auch an das große Ganze. 

ZEIT ONLINE: Ist Angst eine Generationenfrage oder fürchten sich junge und alte Menschen gleichermaßen vor dem, was aktuell passiert?

Kalbitzer: Die Angst zieht sich durch alle Altersgruppen. Diffuse, eher irrationale Sorgen sehe ich etwas häufiger bei älteren Menschen. Dass jemand etwa Übergriffe von Migranten fürchtet oder Gangkriminalität, obwohl derjenige in einer Gegend wohnt, in der das überhaupt nicht sehr wahrscheinlich ist. Auch da spielt Mediendarstellung eine sehr wichtige Rolle – mittlerweile aber auch immer mehr eine mögliche Verzerrung durch die sozialen Medien. Die Generation, die gerade Kinder bekommen hat, sorgt sich häufig um deren Zukunft. Und junge Menschen sorgen sich bei mir in der Praxis häufig in Bezug auf das, was auf sie zukommt. Sie schaffen es aber gerade oft auch am besten, ihre Angst in politische Aktivität umzuwandeln. Etwa, indem sie sich bei Fridays for Future für den Klimaschutz einsetzen. Dieses Gefühl, etwas tun zu können, hilft im Umgang mit der Angst. Als Therapeut ist mir aber auch sehr wichtig, dass gerade kleinere Kinder von ihren Eltern vor Ängsten geschützt werden müssen. Wenn Jugendliche sich engagieren, ist das toll. Aber Kinder im Grundschulalter etwa sollten nicht ständig mit den Bedrohungen der Welt konfrontiert werden.

ZEIT ONLINE: Gerade im Kampf gegen den Klimawandel fühlen sich viele überfordert, hilflos, von der Politik alleingelassen. 

Kalbitzer: Damit aus Ängsten positive Aktivität werden kann, ist es wichtig, Handlungsspielräume zu haben. Das ist der beste Weg, mit der Angst umzugehen. Wenn die Politik sie auch für Individuen schafft, kann damit sogar die psychische Gesundheit der Bevölkerung geschützt und Engagement gefördert werden. So können etwa Baubestimmungen gelockert werden, sodass es für Hausbewohner einfacher wird, Solaranlagen zu installieren oder eine Hausfassade zu begrünen. Das mag in der konkreten Auswirkung nicht so groß sein. Aber um solche Herausforderungen aushalten zu können, muss der Einzelne realistisch etwas für die Verbesserung der eigenen Lebenswelt tun können.

ZEIT ONLINE: Bei manchen der Probleme scheint es illusorisch zu denken, dass die Handlung eines Einzelnen überhaupt etwas bewirken kann.

Kalbitzer: Ein globaler Prozess wie der Klimawandel oder der aktuelle Virusausbruch lässt sich nicht durch einen Einzelnen aufhalten. Wenn nur ich nicht mehr Auto fahre, hält das die Erderwärmung nicht auf. Und das sollte die Politik auch nicht vermitteln, denn sonst ist die Frustration in zehn Jahren groß. Da geht es dann eher darum, etwas gegen die Angst zu tun, indem man sich als Teil einer größeren Gruppe Handelnder wahrnimmt und seine Integrität wahrt.

ZEIT ONLINE: Im Englischen gibt es für das Gefühl der Menschen angesichts des fortschreitenden menschengemachten Klimawandels sogar ein neues Wort: climate change grief, Klimawandel-Trauer. Um welche Gefühle geht es? Trauer, Angst und Hoffnungslosigkeit scheinen sich zu vermischen.

Kalbitzer: Dazu kommen auch noch Überforderung und ein diffuser Stress. Gerade am Anfang fühlen sich manche Menschen angesichts der vielen Ereignisse überwältigt, manchmal aber durchaus auch aktiviert, was sich gut anfühlen kann. Wenn die Unruhe aber zum Dauerzustand wird und es nicht klappt, sich auch mal zurückzuziehen, ist irgendwann keine Energie mehr da. Dann kann aus diesen Gefühlen auch eine Depression werden. Die Menschen sind dann geradezu gelähmt, wollen sich nur noch verkriechen und die Bettdecke über den Kopf ziehen. Man sollte versuchen, vorher zu handeln.

ZEIT ONLINE: Was kann man konkret tun?

Kalbitzer: Der Reflex ist grundsätzlich schon wichtig: sich zurückziehen. Menschen brauchen Nischen, in denen sie sich wohl fühlen. Einige bewerten sogenannte Filterblasen ja sehr negativ. Aber es ist wichtig, ein Gleichgewicht dazwischen zu finden, zwischen einem Rückzug in eine geschützte Nische und den Herausforderungen und Bedrohungen der Umwelt. Menschen müssen abschalten, aber nicht so, dass sie aus der Welt fallen. Denn wer sich immer weiter zurückzieht, weicht nicht nur negativen Dingen aus, sondern auch netten Menschen und schönen Momenten, die zufrieden machen. Auch diese sind in der Welt draußen. Wenn der Rahmen, in dem sich jemand bewegt, aufgrund von Ängsten und Rückzug immer kleiner wird und immer mehr gute, interessante Dinge wegfallen, nennen wir das in der Psychologie Verstärkerverlust.

Das Gespräch führte Maria Mast