Ein hoher Preis für Sicherheit
In der Osterwoche starb mein Vater. Er war nicht an Covid-19 erkrankt. Und dennoch frage ich mich, ob das Coronavirus für seinen Tod mitverantwortlich ist.
Vor Ostern hatte mein Vater mit einer anderen Krankheit mehrere Wochen lang in einem Krankenhaus gelegen, konnte wegen der Seuchengefahr kaum besucht werden, wurde aufgrund von Vorbereitungen auf die erwartete „Welle“ immer wieder verlegt, es gab überall mehr Stress als sonst. Er war froh, Ostern wieder zu Hause zu sein.
Wenige Tage später kam wieder der Rettungswagen, diesmal ging es in ein anderes Krankenhaus. Nach den Aufnahmeuntersuchungen erwähnten die Ärzte dort am Telefon, dass manches in den vergangenen Wochen vielleicht nicht optimal gelaufen sei. Aufgrund diverser Vorerkrankungen habe mein Vater nicht genug „Reserven“, sein Körper sei also nicht mehr stark genug, um die zusätzlichen Belastungen zu kompensieren.
Er wachte nicht mehr auf, um sich zu verabschieden. Das Team auf der Intensivstation, die aufgrund der Corona-Vorbereitungen leerer war als sonst, kümmerte sich bis zuletzt rührend um ihn.
Ärzte in der Rettungsstelle und auf Intensivstationen sehen eine große Zahl an schwer kranken Menschen, das kenne ich gut aus meiner Zeit als Assistenzarzt. In manchen Situationen passiert vieles gleichzeitig. Man sollte deshalb so eine Bemerkung am Telefon nicht auf die Goldwaage legen.
Wenn aber wirklich etwas schiefgelaufen sein sollte, weil aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie weniger Ressourcen für andere Patienten zur Verfügung standen oder weil sie aufgrund der Abstandsregeln emotional zu wenig unterstützt werden konnten, dann wäre mein Vater nicht der Einzige, der durch Covid-19 gestorben ist, ohne mit diesem winzig kleinen Erreger infiziert gewesen zu sein.
In den letzten Wochen berichteten verschiedene Kliniken in Deutschland, dass derzeit weniger Menschen mit akuten Krankheitsbildern wie Herzinfarkt oder Schlaganfall in die Notaufnahme kämen, weil sie sich aus Angst vor einer Infektion mit dem Coronavirus trotz schwerer Symptome nicht dorthin trauten. Das ist auch für leichtere Erkrankungen wie Harnwegsinfekte der Fall. Doch selbst die können gerade bei älteren Menschen einen schwerwiegenden Verlauf nehmen und tödlich enden.
Zudem ist nicht abzusehen, wie viele Menschen unnötig erkranken, schwerer krank werden oder versterben, weil in den vergangenen Wochen viele „verschiebbare“ Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffe abgesagt wurden. Manchmal zählt schon eine einzige Vorsorgeuntersuchung, wenn es darum geht, ob eine Krebserkrankung gut behandelt werden kann oder aufgrund fortgeschrittenen Wachstums oder Metastasen nicht mehr heilbar ist.
Viele Psychiater und Psychotherapeuten fürchten zudem schon seit Beginn der Quarantänemaßnahmen, dass es bei Menschen mit psychischen Beschwerden aufgrund der Belastungen durch Isolierung, Gesundheits- und Existenzängsten zu einer Zunahme von Symptomen und auch Suiziden kommen könnte. Dies betrifft vor allem die Menschen in den ärmeren Regionen dieser Welt, die von den reichen westlichen Ländern, die momentan mit sich selbst beschäftigt sind, noch weniger Unterstützung als sonst erhalten.
Mit Sorge sehen sie auch den zunehmenden Konsum alkoholischer Getränke. Nicht nur, weil Alkohol andere psychische Beschwerden wie depressive Symptome verursachen und verstärken kann, sondern auch aufgrund der indirekten und Langzeitschäden. Dazu gehören die körperlichen und psychischen Folgen im Umfeld derer, die Alkohol trinken, etwa bei Opfern von Gewalt, die unter Alkoholeinfluss zunimmt. Und körperliche Folgeerkrankungen wie Krebs, Leberzirrhose oder eine Schwächung des Immunsystems.
Drei Millionen Menschen sterben laut Weltgesundheitsorganisation jedes Jahr an den Folgen von Alkoholkonsum. Im März dieses Jahres wurden laut Zahlen von Konsumforschern 30 Prozent mehr alkoholische Getränke gekauft. Selbst wenn ein Teil davon „Hamsterkäufe“ waren: Auch eine geringe Zunahme wird schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit vieler Menschen haben.
Die Maßnahmen, die nun zur Eingrenzung der Pandemie ergriffen werden, haben also ganz klar unmittelbare und längerfristige Nachteile für die Gesundheit vieler Menschen. Dadurch dass der Vermeidung von Corona-Toten so viel Aufmerksamkeit zukommt, werden andere Menschen sterben. Bei einem Medikament würde man sagen: Dies sind unerwünschte „Nebenwirkungen“.
Aber, als wäre die Situation nicht komplex genug, die Maßnahmen zur Pandemie-Abwehr haben auch positive Auswirkungen, quasi „Kollateralnutzen“: Die Abstandsgebote bewirken zugleich, dass man sich nicht mit anderen gefährlichen Infektionskrankheiten ansteckt. Und es gibt auch indirekte Effekte: Ein Bericht von Greenpeace und dem Centre for Research on Energy and Clean Air schätzt, dass jährlich 4,5 Millionen Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung sterben.
Da die Luft durch den Lockdown teilweise deutlich besser geworden ist, könnte diese Zahl – genau wie die der Verletzten und Toten durch Verkehrsunfälle – jetzt rückläufig sein.
Können und dürfen Kranke und Tote gegeneinander aufgerechnet werden? Lässt sich eine Gleichung aufmachen, an deren Ende steht, welche Maßnahmen den größten Nutzen für Leib und Leben bringen? Und wenn ja: für wen? Auf welcher moralischen Grundlage kann so etwas entschieden werden, auf Basis welcher Daten? Und das alles, wenn noch nicht einmal die Wirksamkeit und die Folgen der aktuellen Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung genau verstanden sind?
Die Worte der Klinikärzte klingen in mir nach. Ich frage mich, ob es anders ausgegangen wäre, wenn ich mich mehr um meinen Vater gekümmert hätte. Im Kleinen fange ich jetzt auch an, Dinge gegeneinander aufzurechnen. Den Job gegen den Unterricht der Kinder zu Hause gegen familiäre Fürsorge. Hätte es in der Rechnung nicht ein bisschen weniger Arbeit und ein bisschen mehr Familie sein können? Bin ich vielleicht sogar in die Alltagsroutinen geflüchtet, um zu vermeiden, mir bestimmte Fragen stellen zu müssen?
Bei meinen Patienten arbeite ich bei vergleichbaren Konflikten gern mit dem Bild eines inneren Orchesters: In uns spielen manchmal viele Instrumente, also die vielen Gedanken und Gefühle, die wir haben, gleichzeitig. Wir neigen dazu, uns sehr auf einzelne Instrumente zu konzentrieren und andere zu verdrängen. Und die gewohnten einfach so wie immer weiterspielen zu lassen, uns dem Vertrauten hinzugeben und nicht so viel darüber nachzudenken. Wenn wir uns aber zu sehr auf einzelne Melodien konzentrieren, seien es die gewohnten alten oder die ungewohnten neuen, verlieren wir schnell das Gefühl für die Bedeutung des großen Ganzen. Diese neue Tonfolge des Fagotts etwa, die für sich genommen etwas unangenehm klingt – ohne die der immer gleiche Klang der vielen Streicher aber schnell zu einem langweiligen Einheitsbrei wird.
Im übertragenen Sinn erscheinen manche Gedanken und Gefühle, wenn man sie ohne ihren Kontext betrachtet, nur als Probleme. Sie können aber wichtig für die Entwicklung des großen Ganzen sein.
In Bezug auf die Coronakrise lassen sich viele Fragen für mich gerade weder im persönlichen Kontext noch im Blick auf die Gesellschaft richtig beantworten.
Hätte ich mir wünschen sollen, dass die Krankenhäuser sich weniger auf die Intensivbetten für Covid-19-Patienten konzentrieren und mehr auf Patienten wie meinen Vater? War die Einschränkung der Besuchsmöglichkeiten und damit die Einsamkeit, der er in den letzten Wochen seines Lebens ausgesetzt war, ein zu hoher Preis für den Infektionsschutz anderer? Ich traue es mir nicht zu zu sagen, was von alldem besser oder schlechter wäre. Was richtig oder falsch ist.
Im Gefühl des Verlusts und der Nachdenklichkeit, die der Tod eines Menschen hinterlässt, erscheint mir aber die Art der Diskussion, wie wir sie gerade führen, fragwürdig.
Der öffentliche Umgang mit dem neuen Coronavirus legt in atemberaubender Geschwindigkeit offen, wie schwer es uns als Gesellschaft fällt, angemessen mit solchen Dilemmata umzugehen. Wie stark der Reflex ist, sich in Aktionismus zu verlieren, zu polarisieren. Trotzig danach zu rufen, so schnell wie möglich zu alten Gewohnheiten zurückzukehren. Oder aus Sorge vor der „zweiten Welle“ jede Diskussion darüber, ob die Maßnahmen in ihrer Härte angemessen sind, im Keim ersticken zu wollen. Keine dieser Reaktionen wird Ausmaß und Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen gerecht.
Die Achtung vor der Würde jedes einzelnen Toten, den wir in Kauf nehmen, gebietet es aufzuhören, so zu tun, als ob es einfache, „smarte“ Lösungen gäbe. Im Nachhinein wird sich nicht allein anhand der nackten Zahlen zeigen, wer in dieser Krise richtig gehandelt hat. Sondern daran, mit welcher Haltung wir menschlichem Leid dabei begegnet sind.