Die Stille neben ihm
Seit der Konflikt zwischen der Bild-Zeitung und dem Berliner Virologen Christian Drosten auf Twitter eskalierte, bleibt die Frage: Was ist eigentlich los zwischen Deutschlands größtem Boulevardblatt und dem derzeit einflussreichsten Wissenschaftler des Landes? Woher kommt diese Wut auf einen nerdigen Virologen, der der Republik seit Wochen in seinen Podcasts Fragen zu einer Pandemie beantwortet, die zu einer der schwersten Krisen der deutschen Nachkriegszeit führte?
Ein Grund scheint in der unterschiedlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung seiner Rolle zu liegen. Während Drosten sich als Wissenschaftler begreift und klar zum Ausdruck gebracht hat, dass er sich nicht als jemanden versteht, der politische Entscheidungen trifft, vermuten einige, offenbar auch Journalisten bei Bild, dass sein Wort so großes Gewicht bei den bundespolitischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern hat, dass sein Urteil politischen Entscheidungen gleichkommt. Deshalb wollen sie ihn für die Folgen der Lockdown-Maßnahmen verantwortlich machen.
Jenseits solcher Motive greift die Bild wahrscheinlich aber auch Stimmungen der Bevölkerung auf, hinter denen andere Motive stecken. Drosten scheint momentan der einzige Wissenschaftler dieses Landes zu sein, der mit öffentlicher Strahlkraft Erklärungen dafür liefert, was da gerade mit uns passiert und weshalb wir tun müssen, wozu uns offizielle Regeln verpflichten. Seine Einschätzungen bleiben aber unbefriedigend. Denn sie verändern sich im Laufe der Pandemie mit dem sich stetig wandelnden Forschungsstand zum Sars-CoV-2-Virus. Und damit kann auch Christian Drosten die Sehnsucht nach einer größeren Geschichte, die den langfristigen Sinn hinter den gemeinsamen Anstrengungen in dieser Krise aufzeigt und Hoffnung auf eine gute Zukunft nach Corona bietet, nicht befriedigen.
Die Leerstelle neben ihm
Möglicherweise richtet sich ein Teil der Wut, die sich auch in Social-Media-Kanälen und teils sogar in Drohbriefen gegen den Forscher entlädt, im Kern gar nicht gegen ihn selbst, sondern auf die Leerstelle neben ihm. Die Stelle, an der jemand Drostens Erklärungen zum Stand der virologischen Forschung aufnimmt und eine längerfristige Erklärung entwickelt, einen Gesamtplan, eine Geschichte zur Krise liefert: ein übergeordnetes Narrativ, das den Entbehrungen und Einschränkungen, die wir erleben, einen Sinn gibt.
Christian Drosten wird somit zur Projektionsfläche der Wut über einen Mangel, den er als Virologe nicht beheben kann. Denn diese Leerstelle müsste von Politikerinnen und Politikern ausgefüllt werden. Und aus wissenschaftlicher Sicht von jemandem mit Fachkenntnis in der Epidemiologie, wie der Mediziner Anders Tegnell in Schweden. Das Land hatte sich unter seiner Beratung zu weniger strengen Quarantänemaßnahmen entschieden – mit entsprechenden Folgen für das Infektionsgeschehen, konkret deutlich mehr Toten gemessen an der Zahl der Einwohner. Aber auch weniger Belastungen durch einen Lockdown für die Bevölkerung.
Und bei aller Kritik an seinen Entscheidungen: Niemand zweifelt daran, dass Tegnell und seine Kollegen bei der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit einen Plan von dem haben, was sie tun. Warum ein Virologe allein uns nicht sagen kann, ob wir Schulen oder Kitas in der Pandemie öffnen oder schließen sollen? Weil für die Frage nach deren Öffnung relativ irrelevant ist, wie viele Viren sich im Rachen von Kindern befinden – doch das sind Fragestellungen, wie Drosten sie erforscht und bei denen er eine weltweit anerkannte Koryphäe ist.
Wichtiger bei der Beurteilung so eines Schrittes sind aber andere Fragen: Wie verläuft die Krankheit bei Kindern und welche epidemiologische Bedeutung haben sie für die weitere Verbreitung? Es ist ja nicht so, als werde dazu in Deutschland nicht auch geforscht. Warum interessiert das Politikerinnen und Politiker ebenso wie die Öffentlichkeit so viel weniger als statistische Schwächen einer eher theoretischen Studie zu Virusmengen aus Drostens Arbeitsgruppe?
Gerade am Anfang der Pandemie, als klar wurde, dass nicht nur China, sondern die ganze Welt mit diesem Erreger zu tun bekommen würde, hat Christian Drosten in Interviews und Talkshows immer wieder deutlich auf diese Grenzen seiner Expertise hingewiesen. Doch inzwischen, nach Wochen und Monaten, in denen ihn täglich Journalisten und auch Politiker befragten, wirkt es zuweilen so, als habe er sich in die aktuelle epidemiologische Forschung immer tiefer eingelesen, um all die ihm gestellten Fragen besser beantworten zu können. Bis heute verweist er aber weiterhin immer wieder auf die Expertise anderer, beispielsweise die mathematischen Modelle des Infektionsforschers Michael Meyer-Hermann. Daraus, dass der Job des Corona-Erklärers an ihm hängen bleibt, kann man ihm also nicht gerade einen Vorwurf machen.
Heldenverehrung passt nicht zu einer mündigen Gesellschaft
Möglicherweise sollten diejenigen, die sich lautstark über Drosten beschweren, ihren Fokus mehr darauf legen, wie das Problem, das sie bemängeln, behoben werden kann. Die Lösung mag zum einen darin liegen, nicht den Virologen selbst, sondern die um ihn herum veranstaltete Verehrung und Überhöhungkritischer zu hinterfragen. Weshalb es den Deutschen so schwerfällt, sich für eine Vielzahl unterschiedlicher Expertinnen und Experten zu begeistern. Warum muss es so dringend dieser eine, übermenschliche Held sein? Der dann die Erwartungen – nahezu zwangsläufig – enttäuschen muss? Wie alle Helden, die sich am Ende als normale Menschen herausstellen.
Zum anderen sollte man sich am Beispiel Drostens und all dem, was er in der Öffentlichkeit an beschämendem Personenkult und infamen Angriffen auf sich nehmen muss, fragen: Gibt es vielleicht gute Gründe dafür, dass unter Politikerinnen und Politikern mit Einfluss, unter deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Weltrang so wenige sind, die die Rolle des Krisenerklärers auf sich nehmen wollen?
In den USA lässt sich im Großen beobachten, was man in Deutschland bisher vor allem in sozialen Medien und bei einigen Demonstranten sieht: welche Narrative die Oberhand gewinnen, wenn eine ausgewogene, differenzierte Geschichte der Krise fehlt. Dann setzt sich ein Narrativ der Krise als „wir gegen die anderen“ durch, bei dem schnell aus vermeidbaren Schwerkranken und Toten unvermeidbare Opfer gemacht werden, tragische Helden wider Willen im Kampf von Gut gegen Böse.
Wenn die westlichen Staaten gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wollen, dann müssen die gewählten Entscheidungsträger jetzt beweisen, dass liberale Demokratien glaubhaftere und kohärentere Erzählungen für den Umgang mit solchen Krisen parat haben. Und es sollte im Interesse aller Mitglieder einer mündigen Gesellschaft sein, sie dabei, auch durch kritische Nachfragen, bestmöglich zu unterstützen. Statt solche Wechselduschen aus infantiler Bewunderung und trotziger Wut zu veranstalten.